Authentische Problemstellungen
Kick-Off für den Lernprozess
Schon der bekannte amerikanische Pädagoge John Dewey (1910) stellte die Erfahrung durch Problemlösen ins Zentrum der Bildung. Diese Einsicht zieht sich seither durch die Geschichte der Lernforschung und führte beispielsweise zur Entwicklung von Problem Based Learning in der Medizin oder zu fallbasiertem Lernen in den Rechtswissenschaften. Bekannt sind auch die fünf Leitlinien für problemorientierte Lernumgebungen (Reinmann & Mandl 2006):- Authentische Problemstellungen als Ausgangspunkt für Lernprozesse
- Transfer von Lerninhalten in unterschiedliche Kontexte
- multiperspektivische Betrachtung eines Sachverhaltes
- Lernen im sozialen Austausch
- Lernen mit instruktionaler Unterstützung
Situationsdidaktik
Ein situationsdidaktischer Ansatz stellt also das Problem im Sinne einer Herausforderung oder einer Fragestellung an den Anfang eines Lern- und Entwicklungsprozesses und liefert dadurch bereits einen motivierenden Impuls. Damit sind wir bei einem Prinzip, das sich gerade für forschungsorientierte Hochschulen bestens eignet und der Tradition des humboldtschen Bildungsideales entspricht. Zur Realisierung forschungsnahen Lernens und damit letztlich zur Verbindung von Forschung und Lehre existieren hochschuldidaktische Modelle und zahlreiche Beispiele, auf die zurückgegriffen werden kann.
Strategien für einen Problembezug
- Vorwissen und Erfahrung der Teilnehmenden aktiv einbeziehen, z.B. durch Vorab-Befragungen online oder Live im Saal
- Einleitende Darstellung von Kontext, Ausgangslage, Problemstellung oder Beispielen
- Konkrete, auf der Forschung basierende Anwendungen oder Produkte zeigen
- Beispiele aus der eigenen Forschung, bzw. der Forschung an der eigenen Institution präsentieren
- Theorie und Praxis verbinden, durch suchen bzw. finden lassen von Beispielen aus dem Alltag der Teilnehmenden. So werden Lerninhalte mit subjektiv bedeutsamen Kontexten und Handlungen der Teilnehmenden verbunden.
- Aktuelle und für die Teilnehmenden relevante Beispiele verwenden.
Träges Wissen: Wenn Gelerntes nicht genutzt werden kann
Als Träges Wissen (Renkl, 1996; 1998) wird jenes Wissen bezeichnet, das in einer Anwendungs- bzw. Problemlösesituation nicht abgerufen werden kann. Mannigfaltige Gründe führen zum Aufbau trägen Wissens, besonders jedoch Frontalunterricht als Monokultur. In den Kognitionswissenschaften ist das Phänomen des kontextabhängigen Erinnerns bekannt (Baddeley, 2019; Tulving & Thomson, 1973; Godden & Baddeley, 1975): Je ähnlicher eine spätere Anwendungssituation einer Lernsituation ist, desto eher kann das mit ihr verknüpfte Wissen später auch abgerufen werden. Die Ähnlichkeit der Anwendungssituation mit der früheren Lernsituation selber dient als Auslöser (cue) zum Abruf der damals gelernten Information. Als Konsequenz müsste Lerninhalt im Idealfall eigentlich am besten immer gleich in der Anwendungssituation gelernt werden. Das ist die Grundidee einer Situationsdidaktik, in den 90er-Jahren als Situated Learning (Situiertes Lernen) bekannt.
Die Relevanz der Situation als Ausgangslage zur Entwicklung von Handlungskompetenzen lässt sich auch im Werk von Hans Aebli finden: «Am Anfang muss eine geeignete Problemstellung stehen. Sie reizt zum Denken an und richtet es auf das Ziel aus» (Aebli 1981, S. 104 f.). Seit einigen Jahren werden auch Ergebnisse neurowissenschaftlicher Forschung als Belege dafür aufgeführt, dass der Mensch sich viel leichter an Situationen und Geschichten sowie die daraus abgeleiteten Prinzipien erinnert, als an isolierte Informationen (vgl. z. B. Spitzer 2002, 2007). Und nicht zuletzt ist diese Herangehensweise auch motivationspsychologisch ungleich viel günstiger, als die übliche Einstiegskonfrontation der Zielgruppe mit einer Fülle an Fakten und Details. Einfach formuliert: Wenn die Lernenden die Herausforderung sehen wird ihnen schnell klar, dass sie zu deren Bewältigung bestimmte Informationen benötigen.
Die Beziehung zwischen den Lerninhalten und der subjektiven Lebenswelt der Lernenden ist übrigens ein gut belegter weiterer Wirkfaktor für den Lernerfolg und aus der Literatur als Selbstreferenz-Effekt bekannt: Wenn Lerninhalte mit persönlichen Erlebnissen verbunden werden, so steigt die Wahrscheinlichkeit stark, dass der entsprechende Lernstoff später leichter erinnert wird (Symons & Johnson, 1997). Somit dient dieser Effekt auch der kognitiven Aktivierung, auf die später noch eingegangen wird.
Ein neueres Beispiel für den situationsdidaktischen Ansatz sind die Profiles (www.profilesmed.ch) in der Ausbildung der Humanmedizin in der Schweiz: Situations as Starting Points (SSPs) bilden einen von drei Pfeilern des verbindlichen Qualifikationsprofils zur Konzeption der Studiengänge, Entrustable Professional Activities (EPAs) sind umschriebene Handlungsabläufe, die Medizinerinnen und Mediziner am ersten Tag nach Studienabschluss beherrschen müssen. Daraufhin werden sie ausgebildet. Situationen als Ausgangspunkt für Lernprozesse können komplexer oder einfacher sein. Korrekt zitieren liegt zum Beispiel nicht auf demselben Anspruchsniveau, wie historische Quellenkritik. Ein derartiger Zugang kann nicht einfach mit Berufsausbildung gleichgesetzt werden. Vielmehr geht es darum, potentielle Tätigkeitsfelder und darin enthaltene mögliche Situationen zu berücksichtigen. Damit sind auch Situationen wissenschaftlicher Tätigkeit gemeint, z.B. Fachinhalte präsentieren, Modelle zur Strukturanalyse nutzen, chemische Reaktionen beschreiben, Theoreme herleiten, Fragestellungen entwickeln, Forschungsdesigns konzipieren, Fachtexte verfassen und vieles andere mehr.